Unsere Meere sind durch erhebliche Mengen konventioneller und chemischer Munition belastet. Mehr als 1,6 Millionen Tonnen lagern am Boden von Nord- und Ostsee. Nach mehr als 70 Jahren ist Altmunition am Meeresboden immer noch eine Gefahr für Mensch und Umwelt, da sie giftige Substanzen wie zum Beispiel TNT, Quecksilber oder Blei als Schadstoffe freisetzt. Die größte Menge stammt aus gezielten Versenkungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein Sofortprogramm soll nun für die Bergung und Vernichtung der Munition sorgen. Sea Help sprach mit Dr. Wolfgang Sichermann von der Seascape GmbH, der das Programm im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) koordiniert.
Rund 1.600.000 Tonnen alte Munition lagern in den deutschen Meeresgewässern. Die enthaltenen Sprengstoffe treten langsam aus, deren Verbindungen sind giftig und können Krebs verursachen.
Wenn Menschen am Meeresboden tätig sind, Munition auffischen oder in entsprechenden Gebieten ankern, besteht unmittelbare Gefahr für Leib und Leben.
In der Ostsee liege die Munition sogar deutlich sichtbar auf dem Meeresboden und könne daher mit Tauchrobotern gut dokumentiert und kartiert werden, heißt es beim Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, einer der weltweit führenden Einrichtungen auf dem Gebiet der Meeresforschung mit Sitz in Europa.
Forschungen hätten gezeigt, dass sich sprengstofftypische Verbindungen auch über die Versenkungsgebiete hinaus im Wasser ausbreiten würden.
Diese Belastung werde mit fortschreitender Korrosion noch zunehmen und die Risiken weiter steigen, wenn die Altlasten nicht geborgen würden.
Steigende Temperaturen und zunehmende Stürme beschleunigen den Zerfall der Munition
Die Bundesregierung hat daher entsprechend des Koalitionsvertrags ein Sofortprogramm zur Pilotierung der Munitionsbergung und -vernichtung beschlossen und dafür bis 2025 insgesamt 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
Nach Ankündigung der Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) soll noch in diesem Jahr mit dem Bau einer mobilen, schwimmenden Industrieanlage zur Bergung von alter Weltkriegsmunition begonnen werden. Ziel sei „der schnellstmögliche Start von Pilotprojekten zur Bergung der Munition in den Versenkungsgebieten“.
Noch in diesem Jahr soll mit dem Bau einer Spezialplattform zur Bergung von alter Weltkriegsmunition begonnen werden
Dr. Wolfgang Sichermann (Seascape GmbH), der im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) das Sofortprogramm koordiniert, beantwortet im SeaHelp-Gespräch die wichtigsten Fragen, welche die Sportschifffahrt betreffen. (Bild: Dr. Wolfgang Sichermann [© D.Moêllenhof])
Was genau beinhaltet das Sofortprogramm Munitionsaltlasten? Gibt es einen Zeitplan für die Umsetzung?
Dr. Sichermann: das Sofortprogramm Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee mit einem Volumen von 100 Millionen Euro hat zum Ziel, beispielhaft zu zeigen, wie die Munitionsaltlasten systematisch und in großer Menge umweltverträglich und sicher geborgen und entsorgt werden können.
Das Programm geht dieses Jahr in die entscheidende Phase: Ab dem Frühsommer 2024 ist die Erprobung und Weiterentwicklung von bereits verfügbaren Bergungstechnologien in der Lübecker Bucht geplant. Die Erkenntnisse und Erfahrungen fließen in die Planung und Entwicklung einer mobilen, schwimmenden Industrieanlage zur Entsorgung ein – oft wird von einer Plattform gesprochen, doch die genaue Ausprägung der Anlage ist noch offen. Für 2025 ist deren Erstellung vorgesehen. Wichtig ist: Gleichzeitig soll der zukünftige Betreiber festgeschrieben und eine langfristige Finanzierung durch Bund und Länder abgesichert werden.
Wieviel Munition liegt aktuell im deutschen Meer? Welches Gebiet ist stärker betroffen, Nord- oder Ostsee?
Dr. Sichermann: Experten gehen von 1,6 Millionen Tonnen Altlasten aus, 1,3 Millionen in der Nordsee, 300.000 Tonnen in der Ostsee. Bei der Nordsee handelt es sich um eine maximale Annahme, es könnte auch deutlich weniger sein. Die Zahlen für die Ostsee gelten als gesichert. Wichtig ist zu wissen: Diese Zahlen beschreiben das Gewicht der Gesamtkörper wie Bomben, Seeminen oder Patronen. Das Gewicht der enthaltenen Sprengstoffe ist deutlich geringer. Große Mengen der Altlasten konzentrieren sich auf wenigen Flächen. Diese Munitions-Versenkungsgebiete sind bekannt. Insbesondere in der Ostsee liegen die Altlasten in diesen Gebieten teilweise in großen Haufen zusammen.
Die Zahlen sagen es: In der Nordsee liegt deutlich mehr. Derzeit gilt die Bergung und Entsorgung der Munitionsaltlasten in der Ostsee aber als dringender: Insbesondere die Gefahr durch das Ausstreuen von toxischen Sprengstoffverbindungen bei rostenden, häufig schon offenen Munitionskörpern wird in der Ostsee als größer gesehen. Das liegt vor allem daran, dass sich das Wasser hier nur sehr langsam erneuert: Forscher gehen davon aus, dass das Ostseewasser rund hundert Jahre braucht, um sich völlig auszutauschen. Die Ostsee ist also im Grunde ein stehendes Gewässer – im Gegensatz zur Nordsee, wo die Gezeiten für einen permanenten Wasserwechsel sorgen.
Darüber hinaus sind die Anforderungen an eine industrielle Beräumung und Vernichtung in der Nordsee wegen der Einwirkungen von Ebbe und Flut viel komplexer. Verdriftung und Sedimentierung machen es schwieriger, die Altlasten überhaupt aufzufinden. Eine schlechtere Sicht und starke Strömungen erschweren die Handhabung der Munition unter Wasser. Deshalb konzentrieren wir uns in den ersten Schritten auf die Ostsee, um die Erkenntnisse dann übertragen zu können.
Welche Art von Kampfmitteln liegt am Meeresgrund? Wie ist ihr Zustand? Um wieviel chemische Munition handelt es sich?
Dr. Sichermann: Es finden sich alle Arten von Munition, von der kleinen Patrone für Handfeuerwaffen bis zur halbtonnenschweren Fliegerbombe aus Land-, Luft- und Seekrieg. Die alliierten Siegermächte wollten Deutschland komplett entwaffnen, so kam es zu den Versenkungen. Munition wurde auch schon auf dem Weg zu den Versenkungsgebieten über Bord geworfen, um Zeit zu sparen. So finden sich entlang der Fahrrouten zu den Gebieten ebenfalls belastete Flächen. Dazu kommen Blindgänger von Flugangriffen und ausgelegte Seeminen, teilweise noch aus dem Ersten Weltkrieg.
Der Löwenanteil versenkter Munition besteht aus konventioneller Munition. Auf diese Weise entsorgt wurden aber auch Kampfmittel, die chemische Kampfstoffe enthielten. Das geschah größtenteils in internationalen Gewässern und in größerer Tiefe. In deutschen Meeresgewässern finden sich geschätzte rund 90 Tonnen in der Nordsee vor Helgoland, weitere rund 5.000 Tonnen liegen südlich des Kleinen Belts in der dänischen Ostsee auf dem Meeresgrund.
Wie groß ist die Gefahr für Sportschiffer, die von der Munition im Meer ausgeht, etwa, wenn auf einem munitionsverseuchten Grund geankert wird?
Dr. Sichermann: Die Gefahr ist absolut gering, wenn man sich an die Regeln hält. Sie meinen wohl den Fall, dass ein geworfener Anker auf Munition trifft und es zu einer Explosion kommt. Das ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht passiert. Munitionsbelastete Flächen und Orte sind auf den Seekarten eingezeichnet mit „Unrein, Munition“ oder „Fischen und Ankern verboten“. Darüber hinaus gibt es betonnte Sperrgebiete, die ohnehin nicht befahren werden dürfen.
Was macht die alte Munition so gefährlich? Gibt es besonders gefährliche Gebiete, die von Sportskippern gemieden werden sollten?
Dr. Sichermann: Im Grund gilt die alte Skipper-Regel: möglichst Abstand halten, wenn ein Seezeichen auftaucht! Das Sofortprogramm zielt aber gerade nicht auf diese Art von Gefahren ab. Das federführende Bundesumweltministerium hat die Auswirkungen durchrostender Munitionskörper im Fokus, die je länger, je mehr Sprengstoffverbindungen ins Wasser abgeben. Die sind nämlich hochgiftig und auch krebserregend. Diese Verbindungen konnten mittlerweile in der Meeresumwelt nachgewiesen werden, zum Beispiel in Muscheln und Fischen. Rund um Munitionsaltlasten finden sich überdurchschnittliche viele kranke Fische, zum Beispiel mit Lebertumoren. Bei Forschungsfahrten durch die Ostsee konnten Wissenschaftler die Sprengstoffverbindungen in jeder genommenen Probe nachweisen. Was unter anderem auch daran liegt, dass die Analytik ultrafein geworden ist.
Gab es Vorkommnisse, bei denen denen beispielsweise durch Kontakt (mit einem Anker oder mit Fischernetzen) Munition ausgelöst hat?
Dr. Sichermann: Experten kennen keinen Fall, in dem ein Anker alte Munition ausgelöst hat. Aber tatsächlich gab es zuletzt einen Fall vor der britischen Küste, bei dem eine Mine in einem Fischernetz detonierte. In der deutschen Ostsee kennen die Fischer die Stellen mit alter Munition sehr genau und fischen drumherum.
Ein weiteres Problem sind Kampfmittel-Rückstände, die am Strand angespült werden, Stichwort Weißer Phosphor… An Stränden der Ostsee werden immer wieder Überreste von Munition gefunden. In Schleswig-Holstein sind es meistens Munitionsteile, in Mecklenburg-Vorpommern ist es weißer Phosphor, der Bernstein ähnelt und sich entzündet, wenn er austrocknet. Wer sich also nicht sicher ist, sollte einen vermeintlichen Bernstein lieber liegenlassen – oder in eine Blechdose geben, diese außerhalb der Wohnung abstellen und mindestens einen Tag abwarten. Andere Inhaltsstoffe von Munition – wie die sogenannte Schießwolle – können Steinen ähneln. Wenn sich beim Sammeln von Steinen die Hände verfärbt haben, sollte man einen Arzt aufsuchen! (Anm. d. Red.: Hinweise, wie man mit verdächtigen Strandfunden umgehen sollte, finden sich hier.
Gibt es Bedenken hinsichtlich der Kontaminierung von Fischbeständen?
Dr. Sichermann: Muscheln und Fische, die sich in unmittelbarer Nähe von zerfallender Altmunition aufhalten, nehmen die giftigen Sprengstoffverbindungen auf. Bei Bodenfischen wurden diese in Kiemen und Leber nachgewiesen und rufen Erkrankungen hervor, was langfristig Auswirkungen auf die Reproduktion haben kann. Der Verzehr des Fischfilets ist allerdings unbedenklich.
Wie funktioniert die Kampfmittelräumung im Meer genau?
Dr. Sichermann: Zunächst ist zwischen Maßnahmen der Gefahrenabwehr und der Vorsorge zu unterscheiden. Bei der Gefahrenabwehr geht es darum, Munitionskörper zu beseitigen, von denen eine akute Gefährdung durch Detonation ausgeht, etwa wenn diese in Schifffahrtsstraßen, in Häfen oder Seegebieten liegen, in denen z.B. Offshore-Windparks, Seekabel oder Pipelines geplant werden. Bei Auffinden – etwa durch Zufall oder geplante Erkundungen – muss zunächst festgestellt werden, ob die Kampfmittel handhabungsfähig und transportsicher sind. Dies geschieht durch speziell ausgebildete Taucher oder mit Hilfe von ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugen.
Wenn die Kampfmittel sicher geborgen und transportiert werden können, werden diese an den zuständigen Kampfmittelräumdienst der Länder zur Entsorgung an Land übergeben. Besteht eine unmittelbare Gefahr durch nicht mehr handhabungsfähige Munition, wird diese unter Wasser verbracht und an geeigneter Stelle abgelegt oder – als letzte Option – vor Ort gesprengt. Bei Sprengungen kommen heute sogenannte Blasenschleier zum Einsatz, um den Schalldruck der Explosionen zu mindern, der Meeressäuger wie z. B. Schweinswale gefährdet.
Vorsorgemaßnahmen wie das Sofortprogramm, zielen darauf ab, langfristige Schäden durch die Freisetzung von Schadstoffen zu verhindern. Hier geht es um ein Vielfaches an Kampfmitteln im Vergleich zur Gefahrenabwehr. Daher ist es entscheidend, den oben beschriebenen Prozess weitestgehend zu automatisieren und eine umweltverträgliche Entsorgung direkt auf See durchzuführen, um den Transport großer Sprengstoffmassen an und über Land zu vermeiden. Aus der Perspektive der Vorsorge sind Sprengungen der Kampfmittel keine Option, da bei der Explosion nicht alle Sprengstoffverbindungen umgewandelt werden und im Meer zurückblieben.
Wann soll die Bergung abgeschlossen sein?
Dr. Sichermann: Der Zeitplan des Sofortprogramms geht bis zur Fertigstellung der oben genannten Industrieanlage und der Festlegung eines Betreibermodells und dessen Finanzierung. Idealerweise beteiligen sich daran Bund und Länder gemeinsam. Damit beginnt eine Generationenaufgabe. Die Dauer ist noch nicht abzusehen. Der Plan ist, zunächst die jeweils gefährdendsten Altlasten in Angriff zu nehmen. Das alles geht nur Schritt für Schritt und braucht seine Zeit. Ich bin mir aber sicher, dass es wie bei jeder neuen Unternehmung Lerneffekte und Effizienzsteigerungen geben wird.
Weitere Informationen:
Infos zu Munitions-Altlasten im Meer finden sich auf der Seite der schleswig-holsteinischen Landesregierung. Aktuelle Infos zum Sofortprogramm und Hintergründe gibt es auf den Meeresschutz-Seiten des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV). Auch beim Umweltbundesamt gibt es wertvolle Infos.
SeaHelp an der deutschen Nord- und Ostseeküste:
Einsatzzentrale Nordeuropa
Blankwasserweg 125 | 23743 Grömitz
Helpline: +43 50 43 112
ostsee@sea-help.eu