In der Straße von Gibraltar und vor den iberischen Küsten wurden seit Mitte 2020 weit über 200 Vorfälle gemeldet, bei denen Orcas Boote, fast ausschließlich Segelyachten, rammten. Nun gab es erneut einen folgenschweren Angriff: am Sonntag, 12. Mai, sank die Yacht ALBORAN COGNAC in der südlichen Einfahrt zur Straße von Gibraltar, nachdem sie von Orcas beschädigt worden war. OceanCare mahnt: Verhalten der Orcas ist keine Form von Rache oder ein absichtlicher Angriff auf Menschen und ruft zur Toleranz auf.
In der Straße von Gibraltar und vor den iberischen Küsten wurden seit Mitte 2020 weit über 200 Vorfälle gemeldet, bei denen Orcas Boote, fast ausschließlich Segelyachten, rammten. Die größten Schäden verursachten die Tiere an den Ruderanlagen; die Boote waren danach regelmäßig eingeschränkt oder nicht mehr manövrierfähig. Wenn auch nicht so häufig, waren ebenfalls Kiel und Rumpf der Boote beschädigt worden.
Am 31. Juli 2022 kam es zum ersten Seenotfall in Folge einer Interaktion zwischen Orcas und einer Segelyacht. Diese wurde 11 km vor der portugiesischen Küste so oft und heftig gerammt, dass sie aufgrund der strukturellen Schäden zu sinken begann. Daraufhin setzte die Crew einen Notruf ab und evakuierte die Yacht.
Am 1. November 2022 wurde eine Segelyacht ca. 22 km vor der portugiesischen Küste von mehreren Orcas eingekreist und gerammt. Die Interaktion dauerte ca. 50 Minuten. Auch hier sah sich die Crew, nach Lecks im Rumpf und folgenden schweren Wassereinbruch, gezwungen die Yacht zu evakuieren und begab sich in ihre Rettungsinsel.
In der Nacht vom 4. auf den 5. Mai 2023 wurde die Segelyacht CHAMPAGNE an der spanischen Küste in der Nähe von Gibraltar von mehreren Schwertwalen schwer beschädigt und erlitt Wassereinbruch. Die Crew konnte von der örtlichen Küstenwache gerettet werden. Der Versuch, die Segelyacht zu bergen, scheiterte und das Schiff sank.
Am Sonntag, 12. Mai, sank die Yacht ALBORAN COGNAC in der südlichen Einfahrt zur Straße von Gibraltar nach einer Orca-Attacke
Nun gab es erneut einen folgenschweren Angriff der Schwertwale: am Sonntag, 12. Mai, sank die Die knapp 16 Meter lange “ALBORAN COGNAC” in der südlichen Einfahrt zur Straße von Gibraltar, nachdem sie von Orcas beschädigt worden war. Die Besatzung konnte unversehrt gerettet werden.
Dies sei der jüngste in einer Reihe von Vorfällen in den letzten Jahren, bei denen Individuen dieser besonders gefährdeten Orca-Population Schiffe beschädigt oder zum Kentern gebracht hätten, schreibt OceanCare in einem Statement vom 14. Mai.
OceanCare mit Sitz im schweizerischen Wädenswil, die vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen als Sonderberaterin für den Meeresschutz anerkannt und offizielle Partnerorganisation in zahlreichen UN-Abkommen und internationalen Konventionen ist, setzt sich bereits seit 1989 weltweit für die Meerestiere und Ozeane ein.
OceanCare ruft mit Nachdruck zur Toleranz gegenüber den Orcas auf
In ihrem Statement zu dem letzten Orca-Angriff bedauert OceanCare die Notsituation der beiden Besatzungsmitglieder, die gerettet werden mussten nachdem ihr Yacht von Orcas beschädigt worden war und vor der Einfahrt zur Straße von Gibraltar am vergangenen Sonntag gesunken ist, ruft aber erneut mit Nachdruck zur Toleranz gegenüber den Orcas auf.
“Wir glauben nicht, dass das Verhalten der Orcas eine Form von Rache oder ein absichtlicher Angriff auf Menschen ist, und es ist wichtig, dass es in den Medien nicht so dargestellt wird“, sagt Mark Simmonds, wissenschaftlicher Direktor von OceanCare. Diese intelligenten und sehr sozialen Tiere hätten gelernt, dass kleine Boote manipuliert werden können und zögen daraus offensichtlich „eine Art Befriedigung“.
Wahrscheinlich handele es sich um ein Spielverhalten oder eine Art, gegenseitig anzugeben. „Wir wissen, dass die Behörden in den Ländern, in denen diese Population vorkommt, daran arbeiten, angemessene Strategien zur Lösung dieses Problems zu entwickeln“, sagt Simmonds.
Orcas fressen keine Menschen, sie suchen mit den Angriffen auf Yachten auch keine Vergeltung
Bereits im Juli 2023 – nach dem Vorfall mit der Segelyacht CHAMPAGNE – nahm OceanCare zu den Iberische Orcas und ihre Interaktion mit Schiffen wie folgt Stellung:
- Es handelt sich um ein neuartiges Verhalten, das ebenso schnell wieder verschwinden könnte, wie es auftauchte
- Orcas fressen keine Menschen
- Orcas sind sehr intelligent. Sie leben in engen Familienverbänden und lernen voneinander, wodurch sie über die Welt verteilt verschiedene kulturelle Einheiten formen
- Es ist äusserst unwahrscheinlich, dass die Orcas mit Angriffen auf Schiffe Vergeltung suchen; viel eher dürfte es sich um Spiel- oder Erkundungsverhalten handeln
- Die betreffende Subpopulation ist sehr klein und vom Aussterben bedroht
- Derzeit weiss noch niemand, warum genau sich dieses Verhalten entwickelt hat und wie man damit am besten umgeht.
Fest stehe, dass die Orcas, die sich gegenüber Schiffen so derb verhalten würden, zur iberischen Subpopulation gehörten. „Mit weniger als 50 Mitgliedern, einer geringen Zahl an Erwachsenen und einer langsamen Fortpflanzungsrate wurde diese Subpopulation in der Roten Liste der IUCN als vom Aussterben bedroht eingestuft“, so Ocean Care.
Ausserdem würden diese Orcas stark vom Atlantischen Blauflossenthun abhängen, einer Fischart, die ihrerseits überfischt und selten geworden sei. Die Fortpflanzung könne überdies durch chemische Verschmutzung beeinträchtigt sein. Und wie andere Wale und Delfine im Nordostatlantik seien sie vielen menschengemachten Stressoren und Gefahren ausgesetzt, darunter Lärm, Müll und Beifang.
Die durchschnittliche, von Orca-Angriffen betroffene Schiffsgröße beträgt 12 Meter
Orcas interagieren nach Beobachtung von OceanCare „offenbar vor allem mit Schiffen einer bestimmten Grösse (5-21 m, Durchschnitt 12 m), hauptsächlich Segelbooten, und hier insbesondere mit deren Rudern“. Die Interaktionen seien „oft heftig, wobei die Ruder stark manipuliert und manchmal abgebrochen“ werden würden. Dadurch könne auch das gesamte Schiff von den Tieren schnell in eine Schaukelbewegung versetzt werden. In vier Fällen habe dies zum Verlust des Bootes geführt.
Niemand wisse, warum die Orcas mit diesem Verhalten begonnen haben. OceanCare: „Medienberichte, der Ausgangspunkt könnten Racheaktionen eines dominanten Weibchens nach einer unangenehmen Interaktion mit einem Boot gewesen sein, mögen zwar plausibel klingen, sind aber reine Spekulation“. Es handele sich um ein neues, noch nie dagewesenes Verhalten.
Interessant ist, dass nach Aussagen von OceanCare Verhaltensweisen wie diese, die keinen erkennbaren Nutzen für die Tiere haben, schon früher bei Orca-Populationen beobachtet worden seien, darunter – vielleicht am bekanntesten – „eine Modeerscheinung, bei der einige Orcas sich selbst tote Fische auf dem Kopf platzierten“.
Solche Verhaltensmarotten könnten plötzlich auftreten, sich ausbreiten und dann wieder verschwinden. OceanCare hoffe, dass dies auch bei den Angriffen auf Yachten der Fall sein werde.
Dieses Verhalten der Orcas sei „unbestritten besorgniserregend und potentiell gefährlich“, aber man hoffe, „dass alle, die Orcas begegnen, weiterhin mit Geduld und Toleranz reagieren“. Diese Interaktionen könnten auch als Gelegenheit gesehen werden, mehr über diese faszinierenden Geschöpfe zu erfahren und „hoffentlich Wege zu finden, sie besser zu schützen und mit ihnen in Harmonie zu leben und mit Respekt zu begegnen“.
Ein „Verhaltenkodex“ empfiehlt, das Boot bei einem Orca-Angriff zu stoppen und das Steuer sofort loszulassen
Wem das – als Sportskipper, der mit einer Yacht in dem betroffenen Gebiet unterwegs ist – zu schwammig klingt, für den gibt es einen „Verhaltenskodex“ für Bootsführer. Ein Team um den Meereswissenschaftler Neus Perez Gimeno hatte wegen der Überfischung und der gleichzeitig steigenden Anzahl von Whale-Watching-Touren bereits 2014 empfohlen, einen Plan zum Schutz der bedrohten iberischen Orca-Population zu erarbeiten, wie es auf spektrum.de heisst.
Ein Rat lautet etwa, das Boot bei einem Orca-Angriff zu „stoppen und das Steuer sofort loszulassen“. Außerdem sollten Skipper die Tiere „nicht anschreien oder anfassen und keine Gegenstände nach ihnen werfen“. Stattdessen solle man sie „fotografieren, damit die Meereswissenschaftler und Biologinnen von Iberian Orca sie anschließend identifizieren“ könnten. Zudem sei es wichtig, die spanischen und portugiesischen Behörden zu kontaktieren, telefonisch unter 112 oder über UKW-Kanal 16.
Weitere Artikel zum Thema:
Orca-Attacken: Orcas – Warum sie Boote angreifen (SeaHelp)
Walexperten äussern sich zu Fehlinterpretationen über das Verhalten der iberischen Orcas (OceanCare)
Spanien: Segler schiessen auf vom Aussterben bedrohte Orcas (OceanCare)